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Rundbrief August 2022

Das Stachelschwein-Dilemma: Von der besonderen zur heiligen Beziehung

Margarethe Randow-Tesch

»Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so dass sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.«

Mit diesem Gleichnis beschrieb der Philosoph Arthur Schopenhauer das Dilemma menschlicher Beziehungen. Die Sehnsucht nach Nähe treibt uns zueinander, doch zu viel Nähe tut weh, denn sofort bohren sich die Stacheln der unbewussten Angriffsgedanken, die uns (das sich getrennt glaubende Selbst) wie eine Hecke umgeben, in die Haut des anderen, und absichtliche oder unabsichtliche Verletzungen sind die Folge. Verwundet, blutend und frierend, wie wir sind, verteidigen wir unser Selbstbild, so gut es geht, denn wir sehen die Bedrohung nicht dort, sondern draußen.

Menschliche Beziehungen sind, wie wir aus Erfahrung wissen, störanfällige Gebilde. Sie kommen von einem störanfälligen Selbstbild. Wo gerade noch Verständnis, Akzeptanz und Zusammenarbeit herrschten, brechen plötzlich Misstrauen, Machtprobleme, Angriffe und der Ärger unbefriedigter Bedürfnisse durch, um dann wieder für eine Weile im Untergrund zu verschwinden. Dies sind die erträglichen Beziehungen. Es gibt andere Beziehungen in unserem Leben, die von vornherein hoffnungslos erscheinen, so verwickelt sind die Störungen. Wenn das unglückliche Selbstbild anderer ungebremst auf unser unglückliches Selbstbild trifft und umgekehrt, entsteht ein höchst entzündliches Gemisch. Das sind die Hassbeziehungen.

Wie Schopenhauer neigen wir dazu, die Probleme auf der äußeren Ebene festzumachen und nicht darüber hinauszuschauen – auf die Dynamik dahinter. Nicht was wir in Beziehungen wahrnehmen, sondern wie wir es wahrnehmen und wie wir darauf reagieren, ist das Problem. Unsere Wahrnehmungen entstehen durch Projektion. Eine geänderte Projektion führt zu einer geänderten Wahrnehmung, einem anderen Wie.

Die Quelle jeder Projektion ist unser Selbstbild, und dieses wird nicht von außen und nicht durch unsere Vergangenheit erzeugt, sondern durch eine fortlaufende Entscheidung, jetzt, in diesem Augenblick. Es ist die Entscheidung, das Egodenksystem in uns entweder zu schützen oder aber es der Berichtigung zu öffnen, jetzt in diesem Augenblick. Da wir gewöhnlich unbemerkt immer wieder dieselbe Entscheidung für das Ego treffen, entsteht der Anschein eines festen, kontinuierlichen Selbst in der linearen Zeit, dessen Schmerzen wir nicht entrinnen können: unsere Person.

Die Beziehung unseres Geistes zum Ego außerhalb der Zeit, jetzt, in diesem Augenblick, erzeugt Angst. Niemand und nichts sonst. Eine Hölle der Kleinheit, Bedürftigkeit, Selbstanklage, Schuld und Opferfantasien, die wir »Ich« nennen und mit der wir uns identifizieren. Wir müssen dieses Ich nicht groß analysieren: »Es ist nicht nötig, der Angst auf allen Umwegen zu folgen, auf denen sie sich in den Untergrund eingräbt…, um in Formen [den Problemen, Störungen, Symptomen, Beziehungen in der Welt] aufzutauchen, die ganz verschieden sind von dem, was sie ist. Hingegen ist es nötig, jede einzelne zu prüfen, solange du das Prinzip, das über alle herrscht [die Entscheidung für das Ego], beibehalten willst« (T-15.X.5:1).

Da ist sie wieder, die Entscheidung des Geistes für das Ego: für die Trennung von der sanften Größe der Liebe in uns um eines kleinen Machtrausches willen. Sie fällt jetzt. Das muss nicht sein. Woran lässt sie sich erkennen? Zum Beispiel daran: »Wenn der Frieden nicht ganz bei dir ist …, dann hast du irgendeine Sünde in deinem Bruder erblickt und über das frohlockt, wovon du dachtest, dass es dort sei« (T-24.IV.5:2). Dieses gegenseitige Frohlocken, wenn wir in unseren Schuldträumen eine Falle stellen und uns gegenseitig fangen, heißt in der Alltagssprache Ärger oder, noch besser, heiliger Zorn.

Was haben alle Egobeziehungen miteinander gemein? Ganz einfach: Sie sollen Trennung erhalten, aber ohne dass es auffällt: »Das Ego ist sich sicher, dass Liebe gefährlich ist… Es drückt das nie so aus; im Gegenteil, jeder, der glaubt, dass das Ego die Erlösung ist, scheint sich intensiv mit der Suche nach Liebe zu beschäftigen« (T-12.IV.1-2). Unter der Führung des Ego sucht die Person, die wir zu sein meinen, nach Nähe, während sie auf der tieferen Ebene Beweise und Rechtfertigungen für Getrenntheit sammelt. Und sie lassen sich finden, denn unsere Träume wurden gemacht, um sie zu liefern. Diese unbewusste Dynamik steckt hinter Schopenhauers Stachelschweindilemma und hinter allen Beziehungen, die wir mit dem Ego führen. »Eine vorsichtige Freundschaft, begrenzt im Umfang und sorgfältig eingeschränkt im Ausmaß, wurde zu dem Vertrag, den du mit ihm [dem Bruder] geschlossen hattest. So teiltest du mit deinem Bruder ein eingeschränktes Bündnis, in welchem eine Trennungsklausel war, die ihr beide übereingekommen wart unversehrt zu erhalten« (T-29.I.3:8-9). Unser unbewusster Vertrag mit anderen, die Entscheidung für das Ego aufrechtzuerhalten, aber es anders aussehen zu lassen, erklärt, warum Ärger und Groll in unseren Beziehungen entgegen allen Beteuerungen und guten Absichten willkommen sind. Die Liebe in uns kennt keinen Groll. Doch wie Schopenhauer glauben wir als unbewusste Schüler des Ego, dass nicht Liebe, sondern Trennung Erlösung ist und andere uns das antun.

Was also muss anders werden? Nur die fortlaufende Entscheidung für das Ego, die, getarnt durch ihre Unbewusstheit, alle verzerrten Wahrnehmungen und Spiele in Gang hält. »Du, der du dieses lernst, magst immer noch voll Angst sein, aber du bist nicht gelähmt … Du hast eine wirkliche Beziehung, und sie hat Bedeutung« (T-20.VI.12:1,5). Es ist die Beziehung unseres Geistes zum Licht der uns innewohnenden Weisheit und Freundlichkeit, das wir Jesus nennen. Sie muss an die erste Stelle rücken und dort bleiben. Aus dieser ruhigen Beziehung betrachtet, sind unsere Beziehungen in der Welt kein Selbstzweck. Sie sind ein vorübergehendes Mittel zur Heilung unseres Geistes, damit er zu seiner wahren Beziehung und Bestimmung erwachen kann, die alle Worte und Konzepte übersteigt: dem Sein der Liebe. Beziehungen zu anderen Menschen dienen nicht der kleinen Bedürfnisbefriedigung und den absurden Triumphen des besonderen Selbst. Das macht sie destruktiv. Sie dienen dem Erkennen und Vergeben der Projektionen, die wir auf sie gelegt haben, damit wir weise werden können – und zunehmend wach. Das macht sie konstruktiv, nicht ihre jeweilige Form. Dieser Verwendungszweck, der für alle unsere Beziehungen gilt, wird im Kurs die heilige Beziehung genannt. Die heilige Beziehung ist eine barmherzige Sicht auf alle Dinge, geboren aus der zeitlosen Beziehung unseres Geistes zu seiner eigenen Barmherzigkeit. Dafür braucht es Bereitwilligkeit. Und nur das muss sein.

In einer sehr berührenden Stelle in Kapitel 13 heißt es: » Meinen Frieden gebe ich dir. Nimm ihn von mir in freudigem Austausch für alles, was die Welt dir angeboten hat, nur um es dir wieder wegzunehmen. Wir werden ihn wie einen Schleier aus Licht über das traurige Antlitz dieser Welt ausbreiten, in dem wir unsere Brüder vor der Welt verbergen und sie vor ihnen« (T-13.VII.16:8-10).

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